Ein Blogbeitrag von Christian Thomas (CLARIN-D, BBAW)
Buch: Alexander von Humboldt, Henriette Kohlrausch: Die Kosmos-Vorlesung an der Berliner Sing-Akademie. Hrsg. von Christian Kassung und Christian Thomas. Berlin: Insel Verlag, 2019. (insel taschenbuch 4719, ISBN 978-3-458-36419-1) Verlagsseite: https://www.suhrkamp.de/buecher/die_kosmos-vortraege-alexander_von_humboldt_36419.html.
Hintergrund: Alexander von Humboldts legendäre „Kosmos-Vorlesungen“
Alexander von Humboldts legendäre „Kosmos-Vorlesungen“, die im Jahre 1827/28 an der Berliner Sing-Akademie (damals die größte Vorlesungshalle der Stadt, heutzutage der Sitz des Maxim Gorki Theaters) gehalten wurden, stellen einen entscheidenden Moment in der Geschichte der Popularisierung der Wissenschaft dar. Im Winter 1827/28 nahmen rund tausend Berliner*innen und internationale Gäste an den 16 aufeinanderfolgenden Vorlesungen teil. In einem umfassenden „Naturgemälde“ bot Humboldt ihnen einen weitreichenden Überblick über die wissenschaftlichen Kenntnisse seiner Zeit, von astronomischen, geographischen, geologischen und biologischen Themen hin zu kulturellen und sozialen Gebieten. Das Publikum bestand aus einem weiten Spektrum der Gelehrtengesellschaft und interessierten Laien, darunter auch – von Humboldt ausdrücklich dazu eingeladen – Frauen, denen bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts preußische Universitäten verschlossen blieben. Da Humboldt selbst die Vorlesungsreihe nie veröffentlichte, gewinnen die ausführlichen Notizen, die viele seiner Zuhörer*innen schrieben und die in verschiedenen Archiven und Privatbesitzen in Deutschland, Polen, der Türkei und Norwegen vorliegen, noch mehr an Bedeutung, da sie authentische Zeugnisse darstellen, die diesen wichtigen Moment in der Wissenschaftsgeschichte dokumentieren.
Der vor kurzem veröffentlichte Band Die Kosmos-Vorlesung an der Berliner Sing-Akademie, herausgegeben von Christian Kassung und Christian Thomas, präsentiert den verlässlichen und vollständigen Text der Vorlesungsreihe zum ersten Mal in der Druckausgabe. Der editierte Primärtext wurde auf Grundlage des einzigartigen Manuskripts, das in der Staatsbibliothek zu Berlin vorliegt, korrigiert. Ein detailliertes Vorwort der Herausgeber bietet Erklärungen zum Hintergrund, dem derzeitigen Forschungsstand die Vorlesungen betreffend und zu ihrer heutigen Bedeutung an. Ausgewählte Faksimiles vom Manuskript selbst und aus Humboldts Vermächtnis vermitteln einen Eindruck von den historischen Quellen.
Durch einen Vergleich mit anderen handschriftlichen Dokumenten waren die Herausgeber in der Lage, diese Reinschrift, die zuvor einem anonymen (männlichen) Verfasser zugeordnet worden war, als die Henriette Kohlrauschs zu erkennen, einer Autodidaktin und selbstbewussten Frau, die aktiv am Berliner kulturellen und sozialen Leben der Zeit teilnahm und unter anderem Salons und Versammlungen besuchte, an denen auch Alexander von Humboldt, sein Bruder Wilhelm und seine Frau Caroline teilnahmen.
Projektkontext: Das Hidden Kosmos-Projekt der Humboldt-Universität in Zusammenarbeit mit dem Berliner CLARIN-D-Zentrum
Die Digitalisierung der Bilder, die vollständige Textbeschaffung und der Textvergleich zwischen Kohlrauschs Manuskript und mehreren anderen Transkripten von Teilnehmer*innen der „Kosmos-Vorlesungen“ wurde durch die Exzellenzinitiative der Humboldt-Universität zu Berlin als Teil des Projekts Hidden Kosmos: Reconstructing A. v. Humboldt’s Kosmos-Lectures gefördert. Durch die Zusammenarbeit zwischen der Humboldt-Universität und dem CLARIN-D-Zentrum an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) wurden die Volltexttranskriptionen weiter ausgebaut und als digitale Editionen im Deutschen Textarchiv (DTA) veröffentlicht. Ende 2016 wurde nicht nur Henriette Kohlrauschs Manuskript, sondern alle derzeit bekannten Transkripte von Teilnehmer*innen an Alexander von Humboldts weltbekannten „Kosmos-Vorlesungen“ unter einer Creative Commons-Lizenz (CC-BY 4.0) im Deutschen Textarchiv frei zugänglich gemacht [1]. Bei der Aufnahme und Veröffentlichung der Daten wurden darauf geachtet, dass die sogenannten FAIR principles eingehalten wurden, so dass ihre „findability“ (Auffindbarkeit), „accessibility“ (Zugänglichkeit), „interoperability“ (Interoperabilität) und „reuseability“ (Wiederverwendbarkeit) garantiert sind.
Aufbereitung, Veröffentlichung, Analyse und Aufbewahrung: Verwendung der CLARIN-Infrastruktur unter Berücksichtigung des gesamten Forschungsdatenkreislaufs
Diese digitale Edition, und damit auch die Buchpublikation, von der hier die Rede ist, nutzte und profitierte von Komponenten der CLARIN-Infrastruktur, indem zahlreiche ihrer Werkzeuge und Angebote als Teil des Forschungsdatenkreislaufs verwendet wurden: dies reichte vom Sammeln und Strukturieren der Daten auf standardisierte und interoperable Art und Weise bis zur Veröffentlichung, computerbasierten Analyse und langanhaltenden Archivierung. Die Transkriptionsrichtlinien und das Annotationsschema, bei dem XML verwendet wurde, um den transkribierten Text zu strukturieren und annotieren, basierten auf dem DTA-Basisformat gemäß des Standards der internationalen Text Encoding Initiative (TEI). Die XML-Dokumente wurden mit Hilfe von DTABfs RelaxNG-Schema und den Schematron-Regeln validiert, so dass auf einer formalen Ebene die Konformität mit Standards gegeben war.
Die Veröffentlichung der Volltext XML-Transkriptionen zusammen mit Faksimiles der Manuskripte ermöglichte die Verwendung der webbasierten Qualitätssicherungsplattform DTAQ des Deutschen Textarchivs. Hier wurden die Dokumente gleichzeitig intensiv korrekturgelesen und tiefergehend annotiert. Auf DTAQ wurden alle Personennamen, die im Laufe der Vorlesungen erwähnt wurden, mit tei:persName
Elementen markiert und mit eindeutigen Bezeichnungen (unique identifiers) der Gemeinsamen Normdatei (GND) versehen, so dass ein Verzeichnis geschaffen wurde, das beinahe 9000 historische Persönlichkeiten umfasst. Kandidat*innen für diese manuelle semantische Markierung wurden durch die Verwendung der Tool Chain für Named Entity Recognition (NER), die durch DWDS- und DTA-Projekte an der BBAW verfügbar ist, identifiziert und dies wurde anschließend manuell überprüft und verbessert.
Als weiterer Vorteil der Veröffentlichung durch die DTA/CLARIN-D-Infrastruktur kann angeführt werden, dass die historischen Variationen in der Rechtschreibung in den Dokumenten durch die Verwendung des Cascaded Analysis Broker DTA::CAB automatisch normalisiert und in ihrer modernen Form abgebildet wurden. Die ausführlichen Suchoptionen, die durch die linguistische Suchmaschine DDC bereitgestellt werden, können auch sofort verwendet werden, einschließlich Part-of-Speech-Tags und Lemmatisierung. Außerdem können Kollokationsanalysen mit Hilfe von CLARIN-Ds DiaCollo: collocation analysis in diachronic perspective nahtlos für jedes einzelne Dokument des Korpus, für das Korpus als Ganzes oder im Vergleich mit den DTA- und DWDS-Korpora durchgeführt werden. Externe Werkzeuge wie Voyant und mehrere Anwendungen von CLARINs Language Resource Switchboard sind ebenso mit DTA-Ressourcen verbunden. Die Metadaten werden im teiHeader
der entsprechenden Dokumente aufbewahrt, und werden in das simplere, aber weitverbreitete Dublin-Core-Format und in das spezifischere CMDI-Format, das im CLARIN-Kontext entwickelt wurde, konvertiert. Die CMDI-Datensätze werden durch eine API (application programming interface) automatisch an das Virtual Language Observatory (VLO) weitergegeben. Alle Daten werden nachhaltig im zertifizierten CLARIN-Repositorium an der BBAW aufbewahrt.
Das Beste aus zwei Welten: digitale und analoge Texteditionen
Die Printversion, um die es hier geht und die vom bekannten Insel Verlag Berlin veröffentlicht wurde, wurde direkt von der XML-Quelle ausgehend produziert und gemäß des DTA-Basisformats enkodiert. Das Personenverzeichnis des Bandes wurde auch unmittelbar aus den XML-Quellen abgeleitet. In der eBook-Version ist jede Seite des historischen Dokuments direkt mit der entsprechenden elektronischen Version des Manuskripts im Deutschen Textarchiv verbunden, so dass Leser*innen die semantisch reichere digitale Version parallel erfahren können.
Jedes Publikationsformat, ob es nun digital oder analog ist, hat seine eigenen Stärken: Die Druckversion ist in vielerlei Hinsicht besser für ein fortlaufendes close reading der historischen Quelle geeignet, da diese im Kontext von anderen archivalischen Dokumenten, die eng mit dem zentralen Ereignis, den berühmten Kosmos-Vorlesungen, verbunden sind, präsentiert wird. Das Vorwort der Herausgeber gibt eine Übersicht zum aktuellen Stand der Forschung das Thema betreffend und bietet eine Reflexion über den Autor*innenstatus dieses herausragenden, einzigartigen Dokuments, mit dem es Henriette Kohlrausch auf geniale Weise gelang, einen vergänglichen Moment in der Zeit einzufangen, nämlich eine Originalveröffentlichung von Alexander von Humboldt, die nur mündlich präsentiert wurde. Die digitale Version erlaubt andererseits ein computerunterstütztes distant oder scalable reading, das auf hochstrukturierten, semantisch annotierten und miteinander verbundenen Textressourcen basiert, die einen Überblick über ganze 3500 Manuskriptseiten, welche sich mit Humboldts Vorlesungen beschäftigen, bieten.
Auf die vielfältigen Weisen, die oben beschrieben wurden, diente die digitale Infrastruktur, die von den CLARIN-ERIC und CLARIN-D-Initiativen aufgebaut wurde, als Pate dieses neugeborenen, analogen Nachwuchses, und begleitete von Anfang an seinen Weg in die Welt hinaus. Die digitale Version des Manuskripts ist frei zugänglich und wiederverwertbar über das Deutsche Textarchiv und liegt in verschiedenen Formaten, einschließlich der ursprünglichen TEI-XML-Quelle, vor. Das Buch, das auf dieser elektronischen Version basiert, „Alexander von Humboldt und Henriette Kohlrausch: Die Kosmos-Vorlesung an der Berliner Sing-Akademie“, wurde im August 2019 im Insel Verlag veröffentlicht. Es ist als gedrucktes Hardcover und als eBook im EPUB-Format verfügbar.
[1] http://www.deutschestextarchiv.de/doku/textquellen#avhkv; weitere Literaturhinweise:
- Christian Thomas: “You Can’t Put Your Arms Around a Memory: The Multiple Versions of Alexander von Humboldt’s ‘Kosmos-Lectures’ (1827/28).” In: Versioning Cultural Objects. Edited by Roman Bleier and Sean M. Winslow. Schriften des Instituts für Dokumentologie und Editorik, 13. Norderstedt: Books on Demand, 2019, pp. 77–99. OpenAccess via Kölner UniversitätsPublikationsServer (KUPS), https://kups.ub.uni-koeln.de/10650/1/05_thomas.pdf;
- Christian Thomas, Benjamin Fiechter und Marius Hug: „Methoden und Ziele der Erschließung handschriftlicher Quellen zu Alexander von Humboldts Kosmos-Vorträgen: Das Projekt Hidden Kosmos der Humboldt-Universität zu Berlin.“ In: Horizonte der Humboldtforschung, hrsg. v. Ottmar Ette und Julian Drews in der Reihe Pointe (Potsdamer inter- und transkulturelle Texte), hrsg. v. Ottmar Ette und Gesine Müller. Hildesheim: Olms-Weidmann, 2016, S. 287–318.
[2] Für eine Einführung zum DTA-Basisformat für Manuskripte, siehe Susanne Haaf, Christian Thomas: “Enabling the Encoding of Manuscripts within the DTABf: Extension and Modularization of the Format.” In: Journal of the Text Encoding Initiative (jTEI), Issue 10 | December 2016 – July 2019, Online since 08 August 2017, connection on 15 February 2020. URL: https://journals.openedition.org/jtei/1650 DOI: 10.4000/jtei.1650.
Anmerkung: Aus dem Englischen übersetzt von Nathalie Walker.
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