Zwischen Theorie und Praxis: Bericht von der DHd 2020
-- Ein Blogpost von Marlene Kirsten (Uni Bonn) --
Die DHd2020 verlasse ich mit einem vollgeschriebenen Block, neuem Vokabular, einem Code-Editor auf dem Laptop, aber ohne Sticker auf demselben und dem Gefühl, in den letzten Tagen eine Menge über Digital Humanities gelernt zu haben.
Als ich mich entschieden habe, die Jahrestagung der DHd zu besuchen, war meine größte Motivation, dass ich mein theoretisches Wissen über das Forschen und Arbeiten der Digital Humanities gerne in der Realität überprüfen wollte. Ich habe ein ‚klassisches‘ geisteswissenschaftliches Studium der Germanistik und im Bachelor auch der Kunstgeschichte durchlaufen und bin mit den Digital Humanities nur durch Zufall und am Rande in Berührung gekommen. Mein Konferenzbericht ist an manchen Stellen daher auch der einer Außenstehenden, der gerade Differenzen, vielleicht Eigenarten auffallen. Er konzentriert sich auf die beiden Workshoptage.
DH als „Ort der epistemischen Selbstaufklärung“
Am ersten Tag nahm ich am World Café zu „Spielplätze[n] der Theoriebildung in den Digital Humanities“ teil und setzte mich mit einem Thema auseinander, dessen Etablierung in der Fachcommunity von der bei der Jahrestagung offiziell neu gegründeten AG Digital Humanities Theorie vorangetrieben wird. Nach kurzer Zeit tauchte an allen Thementischen, die ich besuchte, die Frage auf: Was meint aber nun Tool, Methode oder Theorie? Die Versuche einer Begriffsbildung und -definition erinnerten mich sehr an die traditionellen Geisteswissenschaften, bekamen aber ob der verschiedenen Fachhintergründe eine eigene Dringlichkeit, um Kommunikation zu ermöglichen.
Aus meiner Sicht am spannendsten waren die Debatten zur Wissenschaftstheorie, die Rabea Kleymann leitete. In meiner Diskussionsrunde mit u.a. einem Philosophen, einem Linguisten und mehreren Literaturwissenschaftlern zeigte sich für mich, dass das Mitentwickeln einer Theorie der DH auch mit einem grundlegenden DH-Verständnis möglich ist. Es ist vorstellbar, dass es sich bei der Theorie um einen Bereich handelt, der eine Kommunikation zwischen traditionell arbeitenden Geisteswissenschaftlern und Digital Humanists befördert. Wissenschaftstheorie erscheint als interdisziplinäres Feld, das beiden Disziplinen die Möglichkeit bietet, ihre Begriffe zu entwickeln und in der Differenz zu schärfen. Wie unterscheidet sich etwa das Wissenschaftsverständnis eines Digital Humanists vom Selbstverständnis einer Literaturwissenschaftlerin? Rabea Kleymann (@RabeaKleymann) fasste dieses Potential in der Abschlussrunde des World Cafés in der folgenden These zusammen: „Digital Humanities könnten der Ort der epistemischen Selbstaufklärung der Geisteswissenschaften werden.“
Auch wenn die Theorie noch fehlt, gibt es bereits eine gemeinsame Sprache und einen Medienumgang, der das Feld gegenüber Außenstehenden, in diesem Falle nicht digital arbeitenden Geisteswissenschaftlern, abgrenzt.[1] Dazu gehört, dass sich selbstverständlich über das Programmieren unterhalten wird, und in den Vorträgen und Workshops nicht nur über Merkmale der Gegenstände, sondern auch über Accuracy Level, Feature Importance, Kreuzvalidierung oder Risiken der Visualisierung gesprochen wurde. Neben Textzitaten wollen Tabellen mit Ergebnissen statistischer Untersuchungen rezipiert werden. Des Weiteren wurde eifrig aus den Sessions getwittert und Präsentationsfolien wurden selbstverständlich online geteilt. In Paderborn war wiederholt zu merken, dass sehr bereitwillig Vorgänge, Programme und Analyseprozesse erklärt werden und auch Leute mit geringem technischem Vorwissen gerne gewonnen werden wollen.[2] Das Vorgehen der Community selbst wirkt auf mich gleichermaßen kompetitiv wie kooperativ, wenn etwa Probleme als shared tasks gelöst werden oder das Stuttgarter CRETA-Team für eigene Projekte auf das von Frank Fischer (@umblaetterer) und Peer Trilcke (@peertrilcke) erarbeitete German Drama Corpus zurückgreift und ihre Ergebnisse dann wiederum in den Corpus zurückspielt.[3]
Modellierung und Operationalisierung
Den zweiten Workshop-Tag verbrachte ich in den beiden Workshops, die durch CRETA organisiert wurden. Dies waren zum einen „Maschinelles Lernen lernen: Ein CRETA-Hackatorial zur reflektierten automatischen Textanalyse“, zum anderen „Vom Phänomen zur Analyse – ein CRETA Workshop zur reflektierten Operationalisierung in den DH“. Während es bei ersterem das Ziel war, ein Programm via Manipulation des zugrundeliegenden Codes so zu optimieren, dass es Entitäten in verschiedenen Korpora erkennen und klassifizieren konnte, setzte der zweite Workshop einen Schritt davor an und veranschaulichte, wie überhaupt Kriterien für eine Musterannotation gefunden werden können. In der Kombination beider Workshops ließ sich nachvollziehen, wie Tools für DH-Analysen entstehen, und welche analogen und digitalen Schritte aufeinander folgen. Dabei wurde deutlich, welche Kompetenzen durch ein klassisches literaturwissenschaftliches Studium vermittelt werden und welche nicht. Während am Morgen neue Programme installiert, und bedient werden wollten, sowie neue Begriffe erlernt werden mussten, war das Debattieren am Nachmittag über intra-, extra- und metadiegetisches Erzählen dann eine Rückkehr in bekanntes Gebiet, und wurde zum Fachgespräch, da ich mit Ben Sulzbacher (@Ben_Slzbchr) ebenfalls einen Germanistik-Masterstudenten als Co-Annotator hatte. Die Zusammenfassung von Nils Reiter (@nilsreiter) „Arbeit an Operationalisierungen ist Arbeit an Konzepten“ zeigte auch, dass diese fachlichen Kompetenzen weiter gebraucht werden.
Am Dienstagabend führte Julia Flanders Keynote „From Modeling to Interpretation to Spielraum“ verschiedene Überlegungen der vergangenen Tage zusammen. Angesprochen wurden das Verhältnis von Modellieren und Interpretieren, zwei Tätigkeiten, die nicht einfach voneinander zu trennen seien. Außerdem brachte Flanders die Möglichkeit auf, Modelle eher im Sinne einer weak theory zu konzipieren, in der Zentrum und Ränder nicht klar zu bestimmen seien und eher ein „episodic web of associations“ entstehe. Zuletzt thematisierte sie schließlich die Öffnung u.a. der Modellbildung für andere Teilnehmer, um die DH nicht zu einem „Tennis Country Club“ werden zu lassen. Der Vortrag, bot mehrere Möglichkeiten, das vorher in den CRETA-Workshops exemplarisch Erlernte auf einer abstrakteren Ebene weiterzudenken, und schlug damit den Bogen zurück zum Theorie-Worldcafé.
Stadtplanung oder wie modelliere ich die DH?
Nachdem am Mittwochmorgen die ersten Vorträge der Jahrestagung gehalten wurden, war am Nachmittag Zeit, um auch den Tagungsort näher kennenzulernen. Gedanken aus den Workshops, den Vorträgen und der Keynote hingen allerdings noch nach. Entsprechend nahm ich die Stadt als Reihe von Symbolbildern wahr. Es könnte an der starken Twitter-Aktivität der DH-Community liegen, dass man Überlegungen prägnanter fassen möchte. Eher ist es aber eine der grundlegenden Fragen des Worldcafés, wegen der ich auch zur Tagung gefahren bin, die mich weiter beschäftigte: Wie stehen die Digital Humanities zu den traditionellen Geisteswissenschaften?
Benjamin Krautter (@BenKrautter) erfasste in seinem Blogbeitrag zur DHd2019 bereits zwei Entwicklungsmöglichkeiten, die sich ein Jahr später in meiner eigenen Wahrnehmung spiegeln:
„Offen bleibt, in welchem Verhältnis die DH im Allgemeinen und die Computational Literary Studies im Speziellen zu ihren etablierten Fachdisziplinen stehen und später einmal stehen sollen bzw. werden. Sollen die Ergebnisse langfristig in die Fachdisziplinen zurückgespielt werden, um mögliche Synergien qualitativer und quantitativer Methoden auszuloten? Oder ist nach dem Vorbild von Linguistik und Computerlinguistik eine dauerhafte Koexistenz analoger und digitaler LiteraturwissenschaftlerInnen das Ziel? Dann möglicherweise mit sehr viel größerer Nähe zur Computerlinguistik, mit Fokus auf die Methodenentwicklung bzw. -anwendung und mit entschiedener Bildung eigener Begriffe, Konzepte und Fragestellungen, die letztlich nicht unbedingt mit dem Begriffsrepertoire der traditionellen Literaturwissenschaft kompatibel sein müssen.“
Einerseits sind die Digital Humanities eigenständig und unabhängig. Viele Gruppen scheinen sich mit Interesse der Toolentwicklung und -optimierung zu widmen, einer teilweise sehr technischen Arbeit. Es wäre wohl wünschenswert, dass es dennoch gelingt, dass die Geisteswissenschaften und die Digital Humanities nicht so nebeneinander zu stehen kommen, wie das Diözesanmuseum und der Paderborner Dom.
Das Diözesanmuseum wurde 1975 nach einem Entwurf des Kölner Architekten Gottfried Böhms fertiggestellt. Die dunkle, gestufte Bleifassade steht in Kontrast zur hellen Fassade des Doms aus dem 13. Jahrhundert. Auch wenn das Gebäude als „skulptural aufgefasstes Schreingehäuse“ beschrieben und mit einem „Schmuckkästchen“ verglichen wird,[4] dürfte es bei Aufnahmen von Touristen, ergo außerhalb der Debatte Stehenden, wohl eher aus dem Bildraum ausgeschnitten werden.[5] Bei einem Gebäude ganz in der Nähe des Doms zeigt sich ein anderes Verhältnis von Neu und Alt. Es handelt sich um das Johannes-Hatzfeld-Haus, das Haus der Dommusik. Der Bau von 1900 wurde 2008 erweitert und renoviert und das neue Treppenhaus schließt zum einen direkt an den Bau an, zum anderen führt es dem Altbau neuen Nutzungsmöglichkeiten zu. Vielleicht braucht eine Stadt wie die Wissenschaft aber auch beides: Imposante Neubauten und elegante, unauffälligere Modernisierungen.
Ich möchte mich noch einmal herzlich bei der Universität Paderborn, bei CLARIAH-DE, dem DHd-Verband und allen Beteiligten für das Reisestipendium zur DHd 2020 bedanken. Nachdem ich den letzten Monat der Fertigstellung meiner Masterarbeit gewidmet habe, möchte ich zukünftig wieder auf das in Paderborn Gelernte und Entwickelte zurückkommen. Das Sommersemester wird in anderem Maße auf jeden Fall digital, aber es wäre ein Ziel, dass sich die Beschäftigung nicht auf didaktische Möglichkeiten der Onlinelehre beschränkt. Das Portal „Digitale Lehre Germanistik“ zeigte zuletzt bereits erste Wege der Kooperation zwischen Digital Humanities und der Germanistik auf, die dieses Semester möglich sein könnten.
[1] Das zeigte etwa ein Tweet eines Rhetorikprofessors aus Tübingen, der schrieb: „Die meisten der Tweets von der #DHd2020 sind mir völlig unverständlich.“ (https://twitter.com/dietmartill/status/1235192624753061888?s=20, zuletzt aufgerufen am 10.04.2020).
[2] Diese Beobachtung ergänzt möglicherweise Ulrikes Wuttkes Befund, Digital Humanities seien ein community-induziertes Phänomen. Ihr Vortrag war entsprechend auch sehr gut besucht.
[3] Vgl. den Vortrag von Nathalie Widmer, Janis Pagel und Nils Reiter: Romeo, Freund des Mercutio: Semi-Automatische Extraktion von Beziehungen zwischen dramatischen Figuren.
[4] https://dioezesanmuseum-paderborn.de/gottfried-boehm-architekt-des-dioezesanmuseums-paderborn-wird-100-jahre/, zuletzt aufgerufen am 10.04.2020.
[5] Dabei handelt es sich um das älteste Diözesanmuseum im deutschsprachigen Raum und wurde 1853 gegründet. Wie sich diese Info in das entworfene Bild einfügen lässt, überlasse ich mal dem/der Leser*in.
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Über die Autorin
Marlene Kirsten (@mriksen_), hat gerade ihr Masterstudium der Germanistik mit dem Schwerpunkt Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Bonn abgeschlossen.
Zitiervorschlag
Kirsten, Marlene(2020): „Zwischen Theorie und Praxis: Bericht von der DHd 2020.“ In: CLARIN-D Blog, 9.6.20. URL: https://www.clarin-d.net/de/blog-clarin-d/107-dhd2020-blogpost-von-marlene-kirsten-bonn.
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